1965 erhalten die Verbraucherzentralen durch die Änderung des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb eine Klagebefugnis: Sie erhalten das Recht stellvertretend unzulässige Handlungen zum Nachteil von Verbrauchern gegenüber Unternehmen durch Klagen zu unterbinden. Nun hat die Verbraucherzentrale eine Waffe, mit der sie Anbieter wirkungsvoll in die Schranken weisen kann. Seit 1970 nahm die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg die Klagebefugnis selbst in Anspruch und ging gerichtlich beispielsweise gegen zahlreiche Wohnungsmakler vor, die trotz der Gesetzesänderung von 1971 weiterhin Vorausgebühren erhoben. Im Jahr 1986 kam es dann zu einer juristischen Auseinandersetzung, die die Verbraucherzentrale über Jahre beschäftigen und an den Rand des Ruins treiben sollte…
Bank trödelt, Konto überzogen
Ein Heidelberger Philologe zahlte an einem Freitagmorgen, dem 3. Oktober 1986, bei der Bezirkssparkasse Heidelberg 580 Mark in bar auf sein Konto ein. Er wollte eine Überweisung in dieser Höhe machen und durch die Bareinzahlung sicherstellen, dass sein Konto ausreichend gedeckt war. Gleich nach der Einzahlung, ließ er also die Überweisung anweisen. Der Betrag für die Überweisung wurde von der Bank noch am selben Tag von seinem Konto abgebucht: Wertstellung am 3. Oktober 1986. Die Bareinzahlung schrieb die Bank aber erst einen Werktag später gut: Wertstellung am 6. Oktober 1986. So kam es dazu, dass sein Konto aus Sicht des Buchungssystems drei Tage lang überzogen war und dafür berechnete ihm die Bank Sollzinsen. Es war ein überschaubarer Betrag von 43 Pfennig, den der Bankkunde verloren hatte – aber er ärgerte sich sehr über die zweierlei Geschwindigkeiten, mit denen die Bank sich auf seine Kosten Vorteile verschaffte.
"Mir als normal denkender Mensch ist nicht einsichtig, warum eine Bank drei Tage eine Einzahlung ignoriert, die Belastung aber am gleichen vornimmt, mir also einen Kredit gewährt, den ich gar nicht will. Das ist sittenwidrig."
Der betroffene Verbraucher in einem Interview mit der "Zeit" (20. Januar 1989)
Voller Ärger beschloss er, zur Verbraucherzentrale zu gehen.
Seit Jahren beschwerten sich Bankkunden bei der Verbraucherzentrale über solche Fälle. Der Schaden beim Einzelnen war in diesen Fällen immer relativ gering, meist handelte es sich um Überziehungszinsen im Pfennigbereich – aber wenn man das hochrechnete, ging es plötzlich um gigantische Summen. Die Verbraucherzentrale ging von einem Betrag zwischen einer und drei Milliarden Mark aus, den die Banken in Deutschland jährlich durch diese Wertstellungspraxis an zusätzlichen Zinseinnahmen verdienten.
Die Verbraucherzentrale mahnt ab
Nachdem die Verbraucherzentrale die Bezirkssparkasse Heidelberg wegen der Beschwerde abgemahnt und als Antwort nur den Hinweis bekommen hatte, dass die Preisgestaltung im eigenen Ermessen erfolge, entschied Vorstand Bärbl Maushart, den Rechtsweg einzuschlagen. Rechtsanwalt Walter Stillner vertrat die Verbraucherzentrale seit 1970, als sie begonnen hatte, die Klagebefugnis selbst auszuüben, in allen juristischen Angelegenheiten. Auch er sah in diesem Fall die Grundlage für eine Abmahnung gegeben: Die Klausel im Gebührenverzeichnis der Bank, in der festgelegt wurde, dass die Wertstellung von Überweisungen am selben Tag erfolgte, bei Einzahlungen aber erst am folgenden Werktag, war nach Einschätzung der Verbraucherzentrale rechtswidrig.
Wenn die Verbraucherzentrale auf einen Rechtsverstoß durch einen Anbieter aufmerksam wird, kann sie juristisch dagegen vorgehen. Der Ablauf sieht so aus: Zuerst kommt die Abmahnung. Dafür schickt die Verbraucherzentrale dem Anbieter, in diesem Fall: der Bezirkssparkasse Heidelberg, die Aufforderung, zur Vermeidung einer Klage eine Unterlassungserklärung abzugeben. Wenn der Anbieter dieser Aufforderung nachkommt, ist das Problem gelöst. Wenn nicht, kann die Verbraucherzentrale Klage einreichen.
Die Bezirkssparkasse Heidelberg weigerte sich, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Damit hätte sie sich verpflichtet, die Klausel aus dem Gebührenverzeichnis zu streichen und die Wertstellung in Zukunft verbraucherfreundlicher zu gestalten. Dazu war sie nicht bereit. Also klagte die Verbraucherzentrale vor dem Landgericht Heidelberg. Das Gericht gab der Verbraucherzentrale recht: Es sei nicht hinnehmbar, dass die Bank bei eingehenden Geldern einen anderen Zeitpunkt für die Berücksichtigung bestimme als bei ausgehenden.
Schock in der zweiten Instanz
Kurz nach der Urteilsverkündung erfuhr die Verbraucherzentrale jedoch, dass die Bezirkssparkasse Heidelberg beim Oberlandesgericht Karlsruhe Berufung eingelegt hatte. Der Fall konnte also keineswegs zu den Akten gelegt werden. Wieder gab es eine Gerichtsverhandlung – und diesmal lief es schlecht für die Verbraucherzentrale, sehr schlecht sogar: Das OLG Karlsruhe sah keinen Gesetzesverstoß auf Seiten der Bank und hob das Urteil der ersten Instanz auf. Rechtsanwalt Walter Stillner erinnert sich:
"Diese Entscheidung wäre für sich gesehen noch zu ertragen gewesen. Aber das OLG vervierfachte von sich aus und ohne dass die Beklagte die Streitwertfestsetzung des Landgerichts gerügt hätte, den Streitwert auf aus Sicht der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg gigantische 200.000 Mark. Die Verbraucherzentrale überschlug die Kosten für drei Instanzen und wusste, dass sie sich bei diesem Streitwert eine Revision nicht würde leisten können! Sie hatte ihre Prozesse bis dahin mit moderaten Streitwerten von 10.000 Mark bis maximal 50.000 Mark geführt. Und die Gerichte hatten bis dahin nie etwas dagegen einzuwenden gehabt. Nun also dieser Supergau! Ein in drei Instanzen verlorener Prozess wäre nicht mehr finanzierbar gewesen. Sollte man also resignieren?"
Aus: Erinnerungsbericht Walter Stillner
Aufgeben ist keine Option
Resignieren? Das war nicht der Stil von Bärbl Maushart, die seit 1983 Vorstand der Verbraucherzentrale war. Die fehlenden Mittel, um Revision gegen das Urteil des OLG Karlsruhe einzulegen und den Fall vor den Bundesgerichtshof zu bringen, waren ein Problem. Aber Probleme sind da, um gelöst zu werden. Zunächst klopfte Bärbl Maushart beim Wirtschaftsministerium des Landes Baden-Württemberg an, dem damaligen Hauptgeldgeber der Verbraucherzentrale. Wäre es nicht möglich, Mittel aus dem Haushalt umzuwidmen, um die Prozesskosten zu tragen? Wäre das Wirtschaftsministerium vielleicht bereit, zusätzliche Mittel für einen Prozess zur Verfügung zu stellen? Die Antwort war: nein und nein. Also musste sich das Team der Verbraucherzentrale selbst etwas einfallen lassen und es entstand eine Idee, die einfach und bestechend war. Für wen wollte man den Prozess führen? Für Verbraucher. Wer würde von einem gewonnenen Prozess profitieren? Verbraucher. Wer könnte also dafür zahlen? Verbraucher? Einen Versuch war es wert!
"Unser Prozeßsieg ist Ihr Zinsgewinn!"
Im Januar 1988 legte die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg einen Prozesskostenfonds auf. Unter dem Motto „Unser Prozeßsieg ist Ihr Zinsgewinn!“, forderte sie Verbraucherinnen und Verbraucher im Ländle dazu auf, für den Fonds zu spenden – und so eine Revision zu ermöglichen.
Und tatsächlich: Innerhalb weniger Wochen gingen 7.000 Mark an Spenden ein. Die Verbraucherzentrale trommelte weiter und konnte am Ende über 10.000 Mark einsammeln. Es war nicht nur diese Summe, die jetzt zur Absicherung zur Verfügung stand. Es waren auch die große öffentliche Unterstützung und der Zuspruch von Seiten der Verbraucher, die die Verbraucherzentrale dazu bewogen, das Risiko einzugehen und weiterzumachen. Rechtsanwalt Walter Stillner veranlasste, dass beim Bundesgerichtshof Revision eingelegt wurde. Im Januar 1989 wurde das endgültige Urteil zur Wertstellungspraxis der Banken gesprochen: Der BGH gab der Verbraucherzentrale recht.
In der Folge musste nicht nur die Heidelberger Bezirkssparkasse reagieren und ihre Wertstellungspraxis ändern. Das Urteil des Bundesgerichtshofs stellte, höchstrichterlich klar, dass eine Klausel zur unterschiedlichen Wertstellung bei Einzahlungen und Überweisungen rechtswidrig ist. Durch das Urteil wurde für alle Banken eine neue Rechtslage geschaffen.
Wie es weiterging? Erfahren Sie hier: Vor dem Aus